Aus dem Tagebuch einer Aktivistin
München, am Montag den 16.12.2019
Liebes Tagebuch,
Wir gehen zu einem Vortrag: „Die Umsetzung der Energiewende im Lichte des Klimaschutz-Programms 2030“. Vortragender ist Dr. Andreas Feicht, Staatssekretär für Energie und Rohstoffe im Ministerium für Wirtschaft.
Der Plan: Fragen stellen. Vor der Fragerunde!
Fragestunden laufen doch normalerweise so ab: Es wird geplaudert, gescherzt und nach höchstens zwei Fragen ist das Elend vorbei. Nun, diesmal nicht. Wir haben mehr als zwei Fragen! Wir sind zu fünft!
Hotel „Bayerischer Hof“ in München.
Nobel geht die Welt zu Grunde. Mir fällt zum ersten Mal auf, wie treffend dieser Spruch eigentlich ist!
Etwa hundert Leute im Publikum: zehn Frauen, hübsch zurecht gemacht. Der Rest: Männer um die sechzig – zu viele Kilos auf den Rippen, zu rote Köpfe. Ein bisschen wirken sie wie schüchterne Jungs, die gekränkt sind, wenn man ihnen widerspricht.
Altmeier – der nachtaktive Incubus im Raum.
Den Rede-Anfang macht ein gut gelaunter Mittsechziger. Seine Späßchen werden vom vorwiegend männlichen Publikum mit spitzem Gelächter belohnt. „Als würde auch nur einer im Bundestag etwas von Wirtschaft verstehen!“, grinst er in die Runde. – Applaus, zustimmendes Grunzen – Dann lullt er die rotgesichtigen Männer weiter ein. „Es ist nicht üblich“, kichert er, „dass Leute aus der Wirtschaft in die Politik gehen. Aber bei Herrn Dr. Andreas Feicht ist es genauso gewesen!“
Feicht hat’s leicht.
Männer wie Frauen sind hingerissen. Ich muss gestehen, anfänglich umgarnt er auch mich. Meine Mutter würde sagen: „Ein fescher Bursch!“ Und sie hätte recht damit.
Andreas Feicht hat Schwung. Er erzählt, wie wunderbar die Bundesrepublik die Energiewende hinbekomme. Alles sei im Zeitplan!
Wobei: Die Winkraft sei ja ein kleines Sorgenkind! Da müsse man sich immer noch auf den Norden verlassen. In Bayern wehe ja kein Wind! Überhaupt, manche würden die Windkraft ja auch eher kontrovers betrachten. Vielleicht führe sie ja gar nirgendwo hin?
Kleiner Scherz am Rande: Ordnungspolitik! Die sei doch der erotische Traum so mancher im Bundestag.
Ordnungspolitik! – Im Publikum kichert man sich verschwörerisch zu. Man weiß ja: allein der Neoliberalismus macht selig!
Nach fünfundvierzig Minuten Einigkeit:
Die erste von uns erhebt sich und unterbricht den schwadronierenden Herrn Feicht: „Warum sollen wieder mal die Bürger mit einer neuen „Bürger-Stiftung-Klimaschutz“ belastet werden?“
Feicht klappt die Kinnlade runter, bekommt aber keine Zeit zum Antworten. Denn gleich fragt die nächste: „Wieso will die Bundesregierung in einem problematischen Gebiet Erdgas fördern?“
Bei den Zuhörern fällt der Groschen. Wer stört?
Es wird gebuht.
Rufe werden laut: „Gehen Sie!“, „Seien Sie still!“, „Sie sind hier nicht erwünscht!“
Lustig, dass man beim „Sie“ bleibt.
Jetzt bin ich an der Reihe: „Warum hält es die Regierung nicht für nötig, öffentlich auf Aktivisten und Wissenschaftler zuzugehen?“
Im Saal herrscht Bombenstimmung.
Unbeherrschte Schreie: „Ökodiktatur!“, „Ökospinner!“, „Ökoterroristen!“
Ich hatte mal Stimmtraining. Das setze ich ein, um den Tumult zu übertönen.
Eine Frau dreht sich zu mir um und belehrt mich nett: „Das ist aber unhöflich.! Warten Sie ab! Sie dürfen doch später Ihre Fragen stellen!“
Ich denke „Ohm“ und lächle.
Unsere nächste Frage: „Die Bundesregierung vermittelt, wir könnten weiterhin doppelt so viel emittieren, als es unserer Bevölkerungszahl entspricht. Warum werden Tatsachen verschleiert?“
Die Welt geht unter!
Im Sitzungssaal des „Bayerischen Hofs“ springen kreischende Männer auf.
Frauen werfen schimpfend die Hände in die Luft.
Tumult!
Was bedeutet eigentlich dieses „Liberal“?
Um mit den Worten von Andreas Feicht zu sprechen: Liberalismus ist der erotische Traum von Männern wie den Anwesenden. Ihnen darf die Energiewende möglichst nicht weh tun.
Haben wir wehgetan? – Wahrscheinlich nicht. Aber wenigstens geärgert haben wir sie. Denn wie es aussieht, würde sie uns am liebsten meucheln, wenn die Disziplinierung solch einem Treiben keinen Riegel vorsetzen würde.
Außerdem gehen wir. Wir sind ja nicht lebensmüde.
Eine Klientel ohne Plan.
Dass die Klimakrise sich in Windeseile zu einer Katastrophe auswachsen kann, ist bei dieser Klientel nicht angekommen.
Das Hyperventilieren hat jedoch gezeigt: Wir waren die Schlange im schauschunkeligen Paradies der Alt-Energien, das Herr Dr. Feicht als Erzengel nicht vollständig abschotten konnte.
Weinen oder Lachen, das ist hier die Frage.
Die Anwesenden wurden an diesem Abend am Bändel durch die liberale Manege geführt!
Sie wurden verschaukelt; vom Staatssekretär für Energie, der im Auftrag der CDU Liberalismus auf Predigt-Tournee geht und den Klimawandel als vernachlässigbar abtut.
Hier wurde der Mittelstand geopfert.
Und keiner von den schüchternen, verunsicherten Jungs hat’s gemerkt.
Kleiner Trost.
Nicht alle haben sich verschaukeln lassen.
Ein paar haben zumindest widersprochen.
JoAnn Weisz
PS. „Love and Rage!“, wie unsere Freunde von XR sagen. In diesem Sinn – schöne Weihnachten und ein erfolgreiches, aktivistisches Jahr 2020.